Donnerstag, 3. Dezember 2015

Was "es" mit mir macht

WUT
Mein Sohn, mein Erstgeborener, mein Stammhalter, mein Wunschkind, mein Augenlicht, mein Stern, mein Mottenkäfer - ist "behindert". BAH, was für ein Wort! Und welch elendig langer Weg bis zur Akzeptanz desselbigen.
Also ICH akzeptiere es, mal mehr, mal weniger.
Und dennoch macht es mich unglaublich WÜTEND !!!
Doch gegen wen richtet sich die Wut einer Mutter, deren Kind so feine und doch massive Störungen mitbringt? Gegen "das Schicksal"? Ja, in besonders schwachen Momenten auch das. Aber im Alltag bin ich wütend auf reelle Menschen! Diese Art Behinderung akzeptieren ist kein Leichtes, das ist mir sehr schmerzhaft bewusst. Aber verurteilt man jemanden, nur weil man das was ihn beeinträchtigt nicht sehen oder skalieren kann? 
Unser Umfeld reagiert mit Augenrollen, Glotzen, Lästern, bösen Worten und Gezischel. Fremde motzen mich an, mischen sich ein, beleidigen uns. Details erspare ich euch. Und keiner von denen hat einen blassen Schimmer, was für ein Kind sie da vor sich haben. Aber es fragt auch niemand!
Selbst die eigene Familie steht dem nicht-gesellschaftstauglichen Verhalten verständnislos gegenüber.
Und als wenn all diese Schmach, die Dummheit und Ignoranz der Leute nicht ausreichen würde, kommen dann die "Fachleute" und die "Ämter" dazu. Sie schüren Hoffnung um sie am nächsten Tag wieder zu rauben. Sie geben Tipps, die nicht praktikabel sind. Sie verlangen Dinge, die ich nicht leisten kann - die J. nicht leisten kann. Sie werfen uns bürokratische Steine, nein Gebirge vor die Füße und machen Vorwürfe, wenn wir darüber stolpern. Sie sagen: "SO geht es nicht!" Auf die berechtigte Frage: "Wie dann?" ... Schweigen! Sie behandeln mich wie eine unintelligente, asoziale Frau. Um hintenraus festzustellen, dass ich ihnen Antworten geben kann auf Fragen, welche sie erst morgen stellen.
Und ja, ich bin auch wütend auf J. 
Womit wir direkt, ohne Umschweife, zu Emotion Nummer 2 kommen:

SCHAM
Ich schäme mich für meine Wut auf meinen kleinen Jungen. Denn er kann nichts dafür. Das ist Fakt! Leider - denn das bedeutet mit Pädagogik kommt man hier nicht weit. 
Ich schäme mich ebenso für mein eigenes Fehlverhalten. Denn das ist da. Ja, ich weiß, es ist eigentlich nur menschlich. Wer kann 24/7 kompetent handeln? Ich bin seine Mutter, ich bin so nah dran wie niemand sonst.
Ich schäme mich aber auch für mein Kind. Manchmal. Wenn er respektlos ist, "dumm" oder frech. Und für die Geräusche die er macht. 
Und dann schäme ich mich für meine Scham, richte mich auf, lege einen Arm um mein hübsches Kind und küsse ihm ein "Ich liebe dich" auf's Haar.

SCHULDGEFÜHLE
Bin ich Schuld? Ärzte haben mir versichert, das was J. an genetischer Disposition mitbringt, macht schon das Gros der ganzen Problematik aus. Okay. Aber hätte ich es ihm trotzdem irgendwie leichter machen können? Bevor ich in der 7. Woche von der Schwangerschaft erfuhr habe ich geraucht. Warum habe ich es nicht sofort sein lassen, als wir die Pille absetzen? Es war mir leider nicht möglich, natürlich zu entbinden und so musste J. per Notkaiserschnitt geholt werden. Und nach 12 Stunden auf dieser Welt wurde er in ein Kinderkrankenhaus verlegt, weil er zu niedrige Zucker- und zu hohe Entzündungswerte hatte. DREI Tage keine Mutter-Kind-Bindung. Denn ich durfte nicht mit - der Kaiserschnitt... Als der Kleine gerade 2 war, trennten wir, seine Eltern, uns. Ein weiteres Trauma? Viele Umzüge haben wir bereits zusammen vollzogen, dabei braucht gerade ein solcher Zwerg doch hauptsächlich Beständigkeit zum Wurzeln schlagen. AD(H)S (seine größte Baustelle) ist nachweislich vererbbar. 
Bin ich also Schuld?

TRAUER
Ich trauere um meine Wunschvorstellung von meinem Kind. Auch wenn ich es früher vehement abgestritten habe, so hatte ich dennoch Erwartungen an diesen Menschen. Zwar war mir egal, was er beruflich einmal wird, wen er liebt, wo und wie er lebt. Aber ich erwartete einen sozialen Menschen mit Freundschaften, einen Menschen, der integriert ist in das Leben, welchem ich meine Werte mitgeben kann. Von all diesen Wünschen muss ich mich verabschieden. Ganz will mir das noch nicht gelingen. Wenn mir die Fachleute sagen: "Ihr Sohn wird höchstwahrscheinlich an keiner Regelschule bestehen, keinen Abschluss machen und keinen Beruf erlernen." Ja, dann werde ich fast ein wenig trotzig. Das werden wir ja sehen! Und selbst wenn er es nicht schafft, ich würde ihn hintergehen, wenn ich die geringe Chance, dass er es schafft, nicht einmal in Erwägung zöge.
Es macht mich ebenso traurig zuzusehen, wie so unglaublich vieles, was für mich Kindheit und Wachsen bedeutet einen Bogen um J. macht.

ROLLENVERSCHIEBUNG
Ok, dieser Punkt beschreibt keine Emotion, dennoch möchte ich euch davon schreiben. 
Ich bin seine Mutter. Das definiere ich mit Vorbild sein, erziehen, lenken, für das Leben vorbereiten und ihn zur Not hineinschubsen, bedingungslos lieben, miteinander Spaß haben, diskutieren, philosophieren. Und auch wenn einiges davon selbstverständlich zu meiner derzeitigen Tätigkeitsbeschreibung zählt, ist da auch noch mehr: Ich bin zu einem Riesenprozentsatz die Betreuerin und Anwältin meines eigenen Kindes. Das ist gelinde gesagt ungesund. Für unsere Beziehung, für seine Entwicklung, für mich.
Und etwas darf man nicht ausser Acht lassen, bzw jemanden: Die kleine Schwester! Die mit 23 Monaten schon unglaublich selbstständig ist. Einfach weil sie muss. Sie wird einmal ihm die Hand reichen und zeigen wo das Leben langgeht, anstatt dass er sie zu ihrem ersten Diskobesuch begleitet.

EINSAMKEIT
J. ist einsam, aber bisher scheint ihm das viel weniger auszumachen als mir. 
Wer aber wirklich einsam ist, das bin ich. Ich habe keinen Partner an meiner Seite und einen neuen finden scheint mir eine unüberwindbare Aufgabe in meiner Situation. 1. Wo finden, wenn man nie allein irgendwo ist? 2. möchte ich einen potenziellen Kandidaten erst einmal allein "abchecken", bevor ich ihn meinen Kindern vorstelle. Aber wann? 3. Ich bin sehr feinfühlig geworden. Mr. Right müsste eben nicht nur mit mir und meinen (hoffentlich überwiegend liebenswerten) Macken umzugehen wissen, sondern eben auch mit beiden Kindern!
Neben einem Partner fehlen aber auch Familie und Freundschaften. Es ist schwer, Kontakte zu pflegen, wenn man permanent 100% der Aufmerksamkeit auf diesen einen kleinen Menschen richten muss. 
Und ich fühle mich allein in meiner Situation. Das Internet hat mir zwar andere betroffene Familien in ganz ähnlichen Schwierigkeiten gezeigt, aber einen echten Kontakt und Austausch gibt es meiner Meinung nach nur "live".

ZUKUNFTSÄNGSTE
Kann ich unsere kleine Familie beisammen halten? Oder kommt irgendwann der Punkt, wo ich uns räumlich trennen muss? Also vor dem "natürlichen" Zeitpunkt meine ich.
Kann ich irgendwann wieder einer (geregelten) Arbeit nachgehen? Momentan ist daran mit den 2 Stunden Fremdbetreuung am Tag nicht im Entferntesten zu denken.
Wird J. irgendwann genug gelernt haben, um allein leben, sein ganz persönliches Glück finden können?
Wird meine Tochter Y. nachhaltig an der Familiensituation zu tragen haben?

ENERGIEVERLUST
Es zehrt unglaublich dieses Leben. Ihr könnt euch das nicht vorstellen.
Wenn ich schrieb, er benötigt 100% meiner Aufmerksamkeit, dann ist es genauso. Und zwar, weil es um seine bloße Sicherheit geht. Mit keinem Gefahrenbewusstsein und ohne einer Vorstellung von den Gefühlen anderer tingelt J. einfach so durch seine Welt. Geht wohin er will ohne sich umzublicken. Bleibt stehen und fummelt an Dingen, die ihn interessieren, ohne Rücksicht auf das Drumherum. Klettert auf 6 m hohe Tannen, wieder und wieder. Läuft bei rot los oder steigt einfach mal ohne Vorwarnung aus der Bahn - einfach weil er es "nicht mehr ausgehalten" hat.
Ich muss alles (!) ständig wiederholen. In der konkreten Situation (z.B. das Anziehen) und jeden Tag auf's Neue (z.B. das Anziehen ;-) Ich verrate euch etwas: Das macht kirre. Und müde. 
Apropos müde: J. ist es nicht. Jedenfalls nicht abends, nicht seitdem er die Medikation bekommt. Vor 23 Uhr ist an Einschlafen nur zu denken, wenn er in meinem Bett neben mir liegt.
Wenn er dann endlich schläft, muss ich selbst erstmal mein eigenes Träumeland finden. Des nächtens kommt dann irgendwann die Lütte und um 6 ist die Nacht beendet. Dann beginnt der neue Tag mit demselben Kampf wie das Gestern. Gegen das eigene Kind, gegen die deutsche Bürokratie, gegen das Unverständnis der anderen, gegen das Aufgeben.
Und dann sind da die Korrespondenzen mit all diesen Institutionen. Immer auf's Neue. Über 20 Seiten Anamnese-/Elternfragebögen, immer wieder. Telefonate, Anträge, Bestätigungen derselbigen, Vermitteln zwischen all diesen und dem Kindesvater.
Dies alles ist sehr sehr schwer durchzuhalten, auch als intelligenter, informierter Mensch. 

HOFFNUNGSACHTERBAHN
Es ist ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. Das Diagnosenlabyrinth erspare ich euch heute, vielleicht drösel ich das mal in einem separaten Beitrag auseinander. Aber als das AD(H)S feststand, kam alsbald die Frage: Geben wir ihm Medikamtente? Und nach dem "ja" ist man noch lange nicht durch mit diesem Thema. Da muss dosiert werden, das Medikament gewechselt, die Nebenwirkungen abgewogen.
Der Kampf um den Schulbegleiter, großzügig gesehen besteht er seit Sommer 2013. Kann er mit dieser Hilfe eine Regelschule besuchen? Oder müssen wir selbst an einem Absolvieren der Förderschule zweifeln?
Therapien!?!? Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Elterntraining...
Was passiert in der Pubertät? Fällt dann alles in sich zusammen oder macht auch mein Kind einen positiven Entwicklungsschub?

STOLZ
Spitzt gut die Ohren, bzw. putzt die Brillen, denn jetzt erzähle ich euch mal, was mein Sohn auch ist:
Er ist total gern hilfsbereit! Für einen Menschen, den er mag opfert er sich auf.
Phantasie und Kreativität sind fester Bestandteil seiner kleinen großen Persönlichkeit.
Wenn man es gar nicht erwartet, haut er unglaublich tiefsinnige Philosophien raus. 
Und auch wenn es häufiger nicht klappt, so hat er doch manchmal einen wundervollen Blick auf die Menschen und in ihre Herzen. Er weiß genau um die Theorie des Seelenvogels.
Vor allem in der Grob- und Feinmotorik hat J. in den letzten 1,5 Jahren unglaublich viel aufgeholt. 
Ich kann ganz objektiv behaupten: J. ist  wunderschön!!! (innen wie aussen)
Last but not least bin ich stolz auf mich selbst!

LIEBE
Unter'm Strich das was bleibt, zählt und pusht.

Freitag, 23. Oktober 2015

Auf der Suche nach Inklusion

Ich möchte euch einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben eines 7-Jährigen zeigen, vielleicht habt ihr Lust und Kraft, einmal genauer hinzuschauen auf die (nicht) gelebte Inklusion in Deutschlands (Grund-) Schulen.
Ich beginne im Sommer 2013, mein Sohn war damals 5 Jahre alt und ein sogenanntes Integrationskind mit Verdacht auf eine Störung aus dem Autismusspektrum. Wir lebten in Berlin und dort wird erstmal grundsätzlich jedes Kind eingeschult, welches im Einschulungsjahr 6 Jahre alt wird. Mein Sohn hat am 18. Dezember Geburtstag, also wurde er „eingezogen“. Mir war bei dem Gedanken daran eher mulmig. Aufgrund seiner Schwierigkeiten mit der Grob- und Feinmotorik, der sehr geringen Konzentrationsspanne und vor allem massiven Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Bereich erschien er mir so gar nicht schulreif. Also beantragte ich eine Rückstellung, welche uns auch gewährt wurde. Doch fast zeitgleich „verlor“ sich der Autismus-Verdacht, sowohl das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) als auch die (Integrations-)Erzieher waren sich einig, dass mein Sohn mit den anderen Vorschülern mithalten könne und eingeschult werden sollte. Nunja, da ist man als Mutter schnell vertröstet und geschmeichelt. Also habe ich den Fehler gemacht, die Rückstellung aufzuheben.
Und so wurde J. Im August 2013 in einer Regelschule entgegen meines ausdrücklichen Wunsches OHNE Schulbegleiter eingeschult (oder Integrationshelfer wie es mancherorts heisst). Auch wollte die Klassenlehrerin mit mir nicht im Vorfeld sprechen, dies täte sie immer erst nach Schulbeginn. Das tat sie dann auch: An Tag 3 kam der Anruf in welchem mir knallhart mitgeteilt wurde, der Junge sei nicht schulfähig, ich müsse ihn aus der Schule nehmen und wieder in den Kindergarten bringen. Wir haben es bis an die Spitze der Behörden getragen, aber in Deutschland gilt: Von der Schule zurück – das geht nicht!
Also bekamen mein Kind „Aufschub“ bis nach den Herbstferien, um sich anzupassen. Das tat er nicht. Im Gegenteil: schnell hatte er heraus, welches Verhalten zu einem Anruf zu Hause führte und ich ihn abholen musste. Soviel zur „verlässlichen“ Halbtagsschule.
Mit Hilfe des SPZs bekamen wir für nach den Herbstferien einen von nur 7 Plätzen in einer „temporären Lerngruppe“, welche an eine Grundschule angegliedert ist. Hier werden die Kinder (allesamt mit ihrem zu tragenden „Päckchen“) in einem Extra-Haus auf dem Schulgelände von einer Lehrkraft und 2,5 Erzieherinnen betreut und individuell unterrichtet. Nach anfänglicher großer Euphorie gab man leider auch dort auf. J. war mit seiner mangelnden Eigenmotivation und der Verweigerung in Anforderungssituationen bis hin zu schweren Wutausbrüchen nicht länger tragbar. Nach einer Suspendierung am letzten Tag vor den Weihnachtsferien wurde zu Jahresbeginn in soweit zurückgerudert, dass das Kind bin zum 01.04. dort hingehen könne, aber nicht unterrichtet würde. Man könnte es auch böse „Verwahren“ nennen. Als Lösung wurde mir ein Psychiatrieaufenthalt empfohlen..... Ich habe mich stattdessen für einen Bundeslandwechsel entschieden!
Und so landeten wir nach 3 Jahren Abwesenheit wieder in Hannover.
Hier gibt es noch zwei sogenannte große „Förderschulen“ mit jeweils an die 200 Schüler. Bereits von Berlin aus nahm ich Kontakt zu einer der beiden auf und fuhr her um sie mir anzusehen. Direkt nach den Osterferien sollte J. dort in die erste Klasse gehen. Bei einem Elterngespräch einen Tag nach dem Umzug stellte sich allerdings heraus, dass dies gar nicht umzusetzen sei, da in Niedersachen das Einschulungsalter höher angesetzt ist. Das bedeutete für uns: etwas mehr als 5 Monate ohne Fremdbetreuung. Mit Säugling im Haus. Alleinerziehend. Mit einem Sohn, der bei 2 Stunden ohne „Auslauf“ die Wände hochgeht. Na prost Mahlzeit!
Ich bekenne mich schuldig: Ich bin eine Löwenmutter! Ich glaube das ist Voraussetzung um ein besonderes Kind vom Schicksal zugewiesen zu bekommen. Also hieß es weiterkämpfen, die Zeit nutzen!
Ich wühlte mich durch alle möglichen Institutionen und so kam es ziemlich schnell zu einer Zusammenarbeit mit der Heilpädagogischen Ambulanz (HPA). Ein Team aus männlichem Heilpädagogen und weiblicher Sozialpädagogin begleitet uns seitdem. Dies beinhaltet Elterngespräche, Begleitung bei Hilfeplangesprächen u.ä. und ganz wichtig: (Er-)leben für das Kind. Ohne Mama aber im „echten“ Leben. Therapie im Alltag. Ohne diese Menschen wäre es um einiges härter gewesen!
Und dann erfuhr ich von einer „Schultagesgruppe“ mit dem Schwerpunkt sozial-emotionale Störungen für die ersten 2 Schuljahre. Sie gehört zu der 2. Förderschule in Hannover und die 9 verfügbaren Plätze pro Schuljahr sind sehr begehrt. Hier werden die Kinder vormittags beschult und am Nachmittag in derselben Gruppe gefördert. Nach den 2 Jahren wird entschieden, ob das Kind eine Chance in einer Regelschule hat oder auf der Förderschule bleibt.
Als mich die Zusage per Telefon beim Klamotten-Shoppen erreichte, musste ich mich setzen und weinen, so weh tat der fallende Stein.
Mit HPA, Ergo- und Psychotherapie bekamen wir den Sommer doch ganz gut hinter uns und J. wurde eingeschult. Zum 2. Mal. In seine 3. Schule. Ich hatte Angst! Große Angst, dass er ein drittes Mal scheitert. Oder besser gesagt das System an ihm scheitert. Denn wie könnte man einen 7Jährigen in diesem Belang schuldig sprechen? Wieder bettelte ich um einen Schulbegleiter, um die Startbedingungen so positiv wie möglich zu gestalten. Zu teuer hieß es. „Wir warten erstmal ab.“
Es wäre so schön und ich so glücklich wenn ich euch jetzt ein Happy-End bieten könnte. Doch diese Geschichte beschreibt das richtige Leben und somit geht es weiter:
Anfang dieses Jahres entschied ich mich dafür, meinen Sohn auf eine Reha-Kur (Psychosomatik) zu begleiten. Um ihn einmal ganzheitlich diagnostizieren zu lassen (denn eine wirkliche Diagnose gab es nach Wegfall des Aspergerverdachtes nicht mehr) und seine sowie die allgemeinen Möglichkeiten zu sondieren. Diese 5 Wochen haben alles schlimmer gemacht. Ich blieb bei den Therapien aussen vor bzw. wurden mir statt Hilfestellungen Vorhaltungen gemacht und der Junge wurde buchstäblich einfach laufen gelassen. Was zur Folge hatte, dass er, wieder zurück in seiner Schule, seine sowieso schon latent vorhandenen Weglauftenzenden auf die Spitze trieb: Gemeinsam mit einem Klassenkameraden fuhr er einen Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch die Großstadt. 6 Stunden wurden sie polizeilich gesucht, bis sie schließlich von allein zur Gruppe zurückkamen. Nassgeregnet (in Hausschuhen) und hungrig. Muss ich erwähnen, dass niemand sich verpflichtet fühlte, einzugreifen? Auch nicht die Bus- und Bahnfahrer, denen eine Suchmeldung vorlag. Nein, denn ich schweife ab…
Fazit des kleinen Ausfluges: Klassenkonferenz, 1,5 Wochen Suspendierung und wieder der Hinweis: J. ist so nicht beschulbar! Sollte der Vorfall sich wiederholen, muss er die Schule verlassen.
Da war es wieder: Das Damokles-Schwert fiel rasant!
Ich fragte nach. Beim Direktor, bei den Pädagogen, beim Jugendamt, bei der Psychologin und den Therapeuten: Was bedeutet das? Was macht man mit einem Kind von 7 Jahren, welches zwar schulpflichtig ist, aber selbst die niedrigste Form von Schule sich nicht in der Lage fühlt, es zu beschulen? Ich sprach es direkt aus: „Heimunterricht unter Ausschluss von sozialen Einflüssen“ oder „geschlossene Einrichtung“? NIEMAND hatte den Mumm dieses einer verzweifelten und stinksauren Mutter zu bestätigen, aber ihr Schweigen war Antwort genug.
Da mir in der Reha an’s Herz gelegt wurde, eine ausführliche AD(H)S-Prüfung vornehmen zu lassen, nutzte ich unsere gemeinsame schulfreie Zeit und trat es an. 
Ich kürze ab: Jackpot! Plus eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS). Plus eine Lese- Rechtschreibschwäche (LRS)
Ok, kurze Schockstarre inklusive dem Gedanken „Ich glaube doch gar nicht an ADHS!“…
Dann hieß es wie immer: Aufstehen, Krone richten, lächeln und in den nächsten Kampf ziehen. 
Das bedeutete diesmal konkret: Einen Platz in der Tagesklinik der hiesigen Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) ergattern, um 1. gut begleitet zu testen, ob in unserem Fall eine medikamentöse Therapie hilfreich wäre und 2. in relativ geschütztem Rahmen und mit dichter Fachkraftstärke zu ergründen, was getan werden muss, um eine Beschulung aufrecht zu erhalten.
7 Wochen und mehrere Gespräche später kann ich euch noch keine Prognose geben.
Das zweite Medikament scheint anzuschlagen. J. läuft nicht mehr weg, aber es fällt ihm unglaublich schwer, teilzunehmen. Auf der einen Seite wünscht er sich nichts mehr als dazuzugehören, auf der anderen Seite weiß er einfach nicht, wie er das angehen soll. Er ist unglaublich schnell überreizt und auf 180. Gruppensituationen, Anforderungen, Strukturänderung kann er kaum aushalten. Aber er bleibt jetzt auch in Ausnahmesituationen greifbar, wo er vorher schlichtweg „ausgetillt“ ist und kreischend, tobend mit Fingern in den Ohren umhergerannt ist.
Wenn in zwei Wochen die Ferien zu Ende sind, wird J. von der KJP-Lehrerin begleitet zurück an seine Schule geführt. Ganz ganz kleinschrittig. Denn was auf keinen Fall passieren darf, da sind sich ausnahmsweise mal alle einig, ist ein weiterer Rausschmiss. Und weil das sogar das Jugendamt so sieht, wird es endlich einen Schulbegleiter geben. Das wurde mir in die Hand versprochen! Natürlich nicht sofort. Auch wenn das das Optimum wäre. Denn für die Beantragung eines Solchen bedarf es einiger Tests und Stellungnahmen, für die das Kind noch etwas stabiler werden sollte. Und selbst wenn der Antrag bewillig wurde, sitzt noch lange kein Begleiter mit in der Klasse. Es ist ein schlecht bezahlter, oftmals undankbarer Job, mit hohem Wechsel an Personal, welches in den seltensten Fällen vom Fach ist. Darum gibt es schlichtweg zu wenig Schulbegleiter. 6 Monate soll ich einkalkulieren. Und auch bei diesem Problem lässt uns das Jugendamt nicht im Regen stehen: Uns wurde zugesagt, dass die Stunden der HPA für diese Überbrückungsphase erhöht werden, so dass J. zur Schule gehen kann. 2 Stunden täglich, begleitet von seinem Team der HPA, bis ein Schulbegleiter gefunden ist.
Das ist nicht viel, und mir ist es nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich ihn wieder sehr viel allein zu Hause betreuen muss. Denn ehrlich gesagt schwinden mir die Kräfte. Kaum ist die kleine Schwester in die Krippe eingewöhnt, könnte ich mal etwas durchatmen, mich wiederfinden in all dem Mama- und Betreuerinnen-Dasein, ist der Große wieder im Haus. Von arbeiten gehen möchte ich gar nicht träumen derzeit.
Aber es ist ein Weg nach vorn!
Und nur dorthin will ich blicken.
Denn wie heisst es so schön: „Man muss mit den Karten spielen, die einem zugeteilt werden!“
Und ich bleibe weiter auf der Suche nach Inklusion…